«Je nach Beeinträchtigung muss man sich von der Norm distanzieren.»
Was macht uns nachhaltig stark? Diese Frage treibt die CSS um. Zwei, die es wissen müssen, sind Didier und Robin Cuche – der weltberühmte ehemalige Skiprofi und sein Neffe, der als Teil des Paralympic-Teams Rennen gewinnt.
Der Skisport verbindet Sie beide über die verwandtschaftliche Beziehung hinaus. Was ist Ihr Antrieb für die rasanten Abfahrten auf der Piste?
Didier: Ich hatte früher eine enorme Motivation fürs Skifahren. Wenn es sich dann am Rennen ausbezahlt hat, war das Antrieb genug.
Robin: Ich mag es, schnell Ski zu fahren und zu gewinnen, das ist mein Motor. Ich fahre jetzt elf Jahre im Weltcup, und es macht immer noch Spass.
Professionell Ski zu fahren, bedeutet ja auch enorm viel Aufwand – tanken Sie dabei Kraft oder frisst der Sport Energie?
Robin: Ende Saison bin ich schon «tot» (lacht). Aber insgesamt habe ich einfach das Gefühl, dass mir der Sport im Leben gutgetan hat. Bereits zu Schulzeiten wusste ich, dass ich nach dem Training Lernen muss und umgekehrt. An diesem Mindset bin ich gewachsen.
Didier: Man wächst sicher anders auf, wenn man beides parallel macht. Ich habe diese drei, vier Jahre mit einer Sieben-Tage-Woche sehr intensiv in Erinnerung. Aber damals war das einfach die Normalität für mich, weil ich ja auch Spass daran hatte. Ich hatte nie das Gefühl, Opfer bringen zu müssen.
Ich nehme an, dass die Mitglieder des Teams von Para-Ski unterschiedliche Trainingsmethoden und Herangehensweisen haben. Robin, wie profitieren Sie im Training von dieser Vielfalt?
Robin: Ich beobachte die anderen und merke mir zum Beispiel, wie jemand ohne Hand – der sonst praktisch perfekt fahren kann – die Linie zieht. Dann muss ich mich aber schon stark auf meine Fähigkeiten konzentrieren und ausprobieren, wie fest ich mit meiner Behinderung davon abweichen muss.
Wie fällt dann die Bewertung aus, damit es möglichst fair ist?
Robin: Unsere Behinderung wird in einen Prozentsatz übersetzt. Bei jemandem, der mit einem Bein fährt, läuft die Sekunde langsamer als beispielsweise bei einem Skirennfahrer mit einem amputierten Arm. Mit meiner halbseitigen Lähmung liege ich irgendwo dazwischen.
In der Wirtschaft spricht man oft davon, dass Vielfalt zu besseren Ergebnissen führt. Ist das im Sport ähnlich?
Didier: Ein offener Blick, der viele Perspektiven zulässt, ist sicher wichtig. Ich habe immer vieles beobachtet und mir die Tools von anderen gemerkt. Wenn ich sie brauchen konnte, habe ich sie aus meinem durchsichtigen Rucksack geholt und ausprobiert.
Im Behindertensport läuft das wohl viel individueller.
Robin: Genau. Bei uns ist es wichtig, zuerst die persönlichen Voraussetzungen zu verstehen, bevor Anweisungen kommen. Gewisse Dinge funktionieren schlicht nicht – egal, wie lange man probiert! Ich glaube aber trotzdem, dass viele verschiedene Inputs hilfreich sind. Ich sammle diese und wähle dann die Option, die am besten zu mir passt.
Didier: Ich weiss, was du meinst. Es gibt Toptrainer im herkömmlichen Sport, die aber von diesem Denken nicht wegkommen. Ich muss selber zugeben, dass auch mein Auge bei einem Rennen automatisch die richtige Linie, den perfekten Schwung identifiziert. Je nach Beeinträchtigung muss man sich von der Norm distanzieren, zum Teil sogar das Gegenteil von dem machen, was man sonst empfehlen würde.
Zu den Personen
Didier Cuche (49) gehörte während mehrerer Jahre zur Weltspitze in der Abfahrt, im Super-G und im Riesenslalom. Er ist fünffacher Sieger und Rekordhalter der Streif in Kitzbühel, gewann vier Medaillen an Weltmeisterschaften, sechs Disziplinen-Gesamtwertungen und eine Silbermedaille an der Olympiade in Nagano. Heute unterstützt er seinen Neffen Robin unter anderem mit seinen ausgefeilten Skischuhtools.
Robin Cuche (25) stand 2023 in jeder Disziplin auf dem Podest und gewann die Gesamtwertung in der Abfahrt und im Riesenslalom. Er kam zwei Monate zu früh mit einer rechtsseitigen Lähmung zur Welt, woraufhin die Ärzte künftigen Skisport gänzlich ausschlossen. Als Neffe von Didier und Sohn von dessen Bruder und Sportmanager Alain Cuche kam es aber anders.
Um in einem Bereich besonders stark zu sein, muss man auf anderes verzichten. Wie gehen Sie damit um?
Didier: Vom Sport her hatte sich das für mich früh ergeben, weil die Skilifte grad vis-à-vis waren. Alle anderen Sportarten waren einfach zu aufwendig für meine Eltern. Wir haben dann aber auch beim Skisport enorm breit trainiert, also habe ich trotzdem sehr viele Bewegungserfahrungen gemacht.
Robin: Ich habe Fussball und Tennis gespielt und war im Skiclub, um mit den Kollegen Spass zu haben. Erst als ich dann ins Team von Paralympics kam, musste ich mich fokussieren.
Ist Ihnen Sport heute noch wichtig, Didier?
Didier: Er hat sicher noch einen grossen Stellenwert, steht aber in keinem Vergleich zu früher. Als ich aktiv Rennen fuhr, machte ich 25 Stunden intensivstes Konditionstraining pro Woche. Das macht eigentlich erst Spass, wenn man die eigene Stärke zu spüren beginnt.
Sie bezeichneten sich früher als Perfektionisten, der nur schwarz oder weiss kannte. Brauchte es diese Kompromisslosigkeit für Ihre sportlichen Erfolge?
Didier: Auf der einen Seite brauchte es sie wohl schon. Ich war nicht übertalentiert, vieles habe ich durch Konsequenz und Disziplin erreicht. Mit der Zeit stand mir dieser Charakterzug aber eher im Weg. Im letzten Drittel meiner Karriere habe ich die Balance gefunden und wurde etwas sanfter mit mir selbst.
Auch Sie durften schon viele Erfolge feiern, Robin, und haben bereits an drei Olympiaden teilgenommen. Wie viele werden es noch?
Robin: Ich dachte eigentlich, ich wäre nach Beijing fertig. Ich hatte eine schwierige Zeit, weil ich als weniger behindert eingestuft wurde, als ich mich selbst einschätzte. Ich musste alles riskieren, um es aufs Podest zu schaffen. In Pyeongchang war ich in fünf Rennen viermal out! Vergangene Saison erreichte ich eine Reklassifizierung – damit stiegen meine Chancen wieder und ich konnte in der Saison 2023 recht gut abschneiden. Jetzt darf ich zwar nur noch mit einem Stock fahren, weil die Österreicher protestierten, freue mich aber auf die nächste Saison und vor allem auf die Olympiade in Mailand. Was danach noch kommt, werden wir sehen.