«Unser Gehirn ist ein soziales Organ»
Das menschliche Gehirn sei für die Gemeinschaft gemacht, sagt Dr. Barbara Studer. Im Gespräch führt die Neuropsychologin aus, was gemeinschaftliches Denken ausmacht, warum wir uns für andere Perspektiven öffnen sollten und wie unser Hirnmuskel fit bleibt.
Frau Dr. Barbara Studer, was lässt uns gemeinschaftlich denken?
Gemeinschaftliches Denken ist etwas sehr Natürliches, denn unser Gehirn ist ein soziales Organ. Wir sind für die Gemeinschaft gemacht und blühen auf, wenn wir zusammen mit anderen etwas anpacken können. Das macht uns glücklicher und zufriedener. Wir alle haben unterschiedliche Gehirne mit verschiedenen Stärken und Schwächen. Das ist zum Teil hormonell bedingt: Menschen mit einem erhöhten dopaminergen System gehen zum Beispiel gern neue Herausforderungen an. Menschen mit einem erhöhten serotonergen System ist es wichtig, dass sich alle im Team wohlfühlen und niemand überrannt wird. Diese Vielfalt sollten wir zulassen und nutzen, statt uns von anderen Perspektiven bedroht zu fühlen.
«Wir sind für die Gemeinschaft gemacht und blühen auf, wenn wir zusammen mit anderen etwas anpacken können.»
Welches sind die Unterschiede zwischen gemeinschaftlichem und individuellem Denken?
Beim gemeinschaftlichen Denken stehen der Teamgeist und das gegenseitige Vertrauen im Vordergrund. Im Gegensatz dazu geht es beim individuellen Denken um Autonomie. Wir alle brauchen eine gewisse Autonomie in unserem Denken und Handeln, wollen wenigstens teilweise selber bestimmen dürfen. Beim gemeinschaftlichen Denken werden diese Teilautonomien zu einem grossen Ganzen zusammengefügt.
Wie kann gemeinschaftliches Denken in einem Team gefördert werden?
Wenn man als Gruppe ein gemeinsames Ziel hat und jeder und jede Einzelne weiss, welche wertvolle Rolle er oder sie dabei spielt, fördert man gemeinschaftliches Denken.
Das heisst, die einzelnen Personen haben keine volle Autonomie, sondern eine Teilautonomie. Zudem sollte man offen sein für andere Ideen. Und Wertschätzung spielt auch eine wichtige Rolle: Wer sich für seinen Beitrag wertgeschätzt fühlt, trägt das Kollektive eher mit.
Zur Person
Die Neurowissenschafterin und Hirnforscherin Dr. Barbara Studer ist Expertin für Hirngesundheit und doziert an der Universität Bern und anderen Institutionen. Gleichzeitig ist sie als CEO der von ihr mitgegründeten Firma Hirncoach AG, einer Plattform für effektives Gehirntraining, unternehmerisch tätig.
Welche Rolle spielt dabei die Kommunikation?
Aus meiner Sicht ist vor allem ein guter Informationsaustausch wichtig, damit sich niemand ausgeschlossen fühlt. Auch das Zugeben von Unwissen und Fehlern fördert Vertrauen und ehrliche Kommunikation. In einem Team braucht man einen Konsens. Damit dieser gelingt, sollen alle zu Wort kommen und ihre Meinung einbringen dürfen. Das schafft Vertrauen, braucht aber Zeit. Unterschiedliche Meinungen können zu Diskussionen führen. Würden alle gleich denken, könnte man schneller vorwärts machen. Aber am Ende hat man weniger kreative und wertvolle Lösungen, davon bin ich überzeugt.
Wie wirken sich kulturelle Einflüsse auf das gemeinschaftliche Denken aus?
In unserer individualistischen Kultur haben wir die Tendenz, vor allem für uns selber Verantwortung zu übernehmen, weniger für das Kollektiv. Harmonie steht nicht unbedingt im Vordergrund, man steht gerne zur eigenen Meinung. Das ist eigentlich etwas Gutes, erschwert aber gleichzeitig, für das Gemeinschaftliche etwas zurückzustehen. Eine Kultur, auch in einem Team, die von Werten wie Ehrlichkeit, Vertrauensaufbau, Selbstbestimmung und Wertschätzung geprägt ist, kann das gemeinschaftliche Denken enorm fördern.
«Fehlende soziale Interaktionen und Bewegungsmangel sind für unser Gehirn verheerend.»
Lassen sich Denkmuster verändern?
Ja, wenn wir bereit sind, an unserer Einstellung zu arbeiten. Wenn ich anders denken will – weniger individualistisch, sondern eher kollektiv –, geht das nicht von einem Tag auf den anderen. Unser Gehirn funktioniert nach einem Muster, das wir uns (unbewusst) antrainiert haben. Damit wir unser Denken verändern können, müssen wir uns auf Neues einlassen. Die Veränderung im Denken braucht etwas Zeit, da auch eine biologische Veränderung im Gehirn stattfindet. Indem ich regelmässig mit verschiedenen Menschen spreche, mich mit anderen Meinungen auseinandersetze und über unterschiedliche Standpunkte lese, nähere ich mich anderen Perspektiven an und kann neue Denkmuster einüben. Das ist vergleichbar mit einem neuen Verhalten: Wenn ich eine neue Sprache oder ein neues Instrument lerne, muss ich üben und mein Hirn damit stimulieren. Dasselbe gilt für andere Werte und neue Perspektiven: Man muss sich regelmässig damit auseinandersetzen.
Was können wir tun, damit unser Gehirn bis ins hohe Alter fit bleibt?
Wir trainieren unser Gehirn den ganzen Tag bei allem, was wir tun. Damit unser Hirn fit und aktiv bleibt, braucht es regelmässige Stimulation auf vier Ebenen. Kognitiv fordern wir unser Gehirn, indem wir jeden Tag an etwas «herumhirnen» und nicht nur Routinearbeiten nachgehen. Eine der wichtigsten Stimulationen sind soziale Interaktionen: Gespräche mit Mitmenschen und körperliche Berührungen tun unserem Gehirn gut. Auf emotionaler Ebene wird unser Gehirn zum Beispiel stimuliert, wenn wir von anderen Liebe erfahren oder anderen Gutes tun. Und besonders wichtig ist die körperliche Ebene, also genügend Bewegung und Training der Koordination und Muskelkraft. Geistige Stimulation ist zwar wichtig für unser Gehirn, viel verheerender sind jedoch fehlende soziale Interaktionen und Bewegungsmangel. Es lohnt sich in jedem Alter, das Gehirn möglichst regelmässig mit allem zu versorgen, was ihm guttut.