«Die jahrelang einbezahlten Prämien waren eine ausgezeichnete Investition in die Familie»
Für Beda M. Stadler hat die Schweiz ein vielversprechendes Gesundheitssystem. Allerdings erachten es zu viele Menschen als Selbstbedienungsladen.
Was denken Sie, wenn Sie Ihre monatliche Prämienrechnung erhalten?
In jungen Jahren habe ich mir jeweils ausgerechnet, was ich mit diesem Geld mir sonst noch hätte leisten können. Da unser modernes Gesundheitssystem nicht nur mir, sondern auch meinem Sohn das Leben gerettet hat, meiner Tochter ihre Berufstätigkeit wieder ermöglicht hat und sicherstellt, dass meine Frau immer noch an meiner Seite ist, denke ich, die jahrelang einbezahlten Prämien waren eine ausgezeichnete Investition in die Familie. Hätte ich die Arzt- und Spitalrechnungen der Familie in den letzten Jahren selbst bezahlen müssen, wäre ich jetzt bankrott oder eben tot.
Schon die Generation unserer Eltern ächzte unter den Prämienrechnungen, und auch der nächsten Generation wird es nicht besser gehen. Ist es hoffnungslos?
Die früheren Generationen haben aber nicht darüber gejammert, dass die Ferien immer teurer wurden, weil sie keine Ferien hatten. Wir hingegen haben heute ein derart vielversprechendes Gesundheitssystem, dass die meisten Menschen sogar gesund sterben wollen. Die Medizin hat allerdings viel zu lange auf Glauben statt Rationalität gesetzt. Erfahrungsmediziner brüsten sich noch heute mit Methoden und Pseudomedikamenten, die bloss einen Placebo-Effekt aufweisen. Uns ist also der gesunde Menschenverstand abhandengekommen, wer eigentlich gesund und wer krank ist. Wer Wellness oder Unpässlichkeiten mit der Krankenkasse regeln will, damit bis Ende Jahr gleich viel bezogen wie eingezahlt wurde, ist vielleicht mit ein Grund für die Hoffnungslosigkeit.
Sie haben als Jugendlicher das Kollegium Spiritus Sanctus in Brig besucht. Braucht auch das Gesundheitswesen einen «heiligen Geist», um aus der endlosen Kostenspirale herauszufinden?
Im Gegenteil. Die Lösung steht bereits in unserem Krankenversicherungsgesetz, welches festhält, dass alle Leistungen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich (WZW) sein müssen. Wir müssten uns nur an diese WZW-Kriterien halten. Wir weigern uns aber, weil viele Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs immer billiger wurden. Warum sollten wir also für die Gesundheit mehr bezahlen? Das Gesundheitssystem ist kein Selbstbedienungsladen, und wir sollten gemeinsam die Milchbüchleinrechnung anstellen: Insgesamt kann nur so viel ausbezahlt werden, wie einbezahlt wurde.
Sie plädieren dafür, der Wissenschaft mehr zu vertrauen. Weshalb hat noch kein Wissenschafter dieser Welt den Stein des Weisen gefunden, was ein bezahlbares Gesundheitssystem anbelangt?
Weil dies derzeit keine wissenschaftliche Frage ist. Eine soziale Krankenversicherung beruht auf dem Solidaritätsprinzip. Es geht also um Moral und dazu haben wir weder einen philosophischen noch einen religiösen Konsens in der Schweiz. Viel zu viele Menschen betrachten unser Gesundheitssystem zudem immer noch als einen Markt. Da Moral tatsächlich ein Teil unseres evolutionären Programms ist, wäre die Verwirklichung eines bezahlbaren Gesundheitswesens eigentlich eine wissenschaftliche Frage. Dazu müssten wir allerdings bereit sein, zu akzeptieren, dass wissenschaftliche Fakten wichtiger sind als Meinungen.
Zur Person
Beda M. Stadler, geboren 1950 in Visp, Schweiz, ist emeritierter Professor und war Direktor des Instituts für klinische Immunologie an der Universität Bern. Bekannt wurde er unter anderem als Autor bissiger Kolumnen, in denen er zu medizinischen, gesundheits- und gesellschaftspolitischen Themen Stellung bezog. Der bekennende Atheist studierte Biologie in Bern, arbeitete zwei Jahre in den USA und promovierte danach an der Universität Bern in Molekularbiologie. Als Professor für Immunologie forschte er auf dem Gebiet der Allergologie und Autoimmunität sowie der Herstellung von rekombinanten Antikörpern und Impfstoffen. Stadler ist auch als Buchautor tätig. Sei neustes, 2023 publiziertes Werk trägt den Titel «Wir zwei für die Zukunft».