«Vertrauen ist ein Gemeinschaftswerk.»

In seinem preisgekrönten Sachbuch zum Thema Vertrauen ermutigt uns Martin Hartmann, für ein besseres Miteinander wieder mehr Vertrauen zu wagen. Wir haben uns mit dem Philosophen darüber unterhalten, wie Vertrauen die Zusammenarbeit beeinflusst und wie es unsere Beziehungen prägt.

Professor Hartmann, als Experte für das Thema Vertrauen: Welche Rolle spielt das Vertrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen?

Die meisten schätzen es, wenn sie anderen vertrauen können und wenn ihnen selbst vertraut wird. Umgekehrt empfinden sie Stress, wenn sie merken, dass Misstrauen vorherrscht. Man kann vielleicht sogar noch weiter gehen: Wenn wir Arbeitsprozesse so restrukturieren, dass zwischenmenschliches Vertrauen gar nicht mehr nötig ist – etwa, weil wir manche Vorgänge digitalisieren oder wichtige Entscheide einem Algorithmus überlassen –, berauben wir uns förmlich der Möglichkeit, Vertrauen zueinander aufzubauen. Das mag an manchen Punkten sinnvoll sein, hat aber auch seinen Preis. Vertrauen hat ja mit Urteilskraft zu tun, also mit meiner Fähigkeit, den anderen als vertrauenswürdig anzuerkennen. Fallen die Begegnungsräume weg, in denen wir diese Urteilskraft ausbilden und ausüben können, verarmt unsere Arbeitswelt auf eigentümliche Weise. Das Zwischenmenschliche ist hier eben wichtig und sollte nicht vorschnell wegrationalisiert werden.

Wie beeinflusst Vertrauen die Zusammenarbeit?

Grundsätzlich ermöglicht uns vorhandenes Vertrauen, besser mit anderen zu kooperieren. Wir müssen weniger nachdenken, weniger Vorsicht walten lassen, weniger umsichtig und kontrollierend sein. Das spart einerseits viel Zeit ein, und andererseits fühlt sich der, dem wir vertrauen, auch anerkannt und wird dadurch am Ende sogar motiviert, das Vertrauen nicht zu enttäuschen. So hat Vertrauen seinen eigenen Wert, es ist nicht einfach nur funktional hilfreich, es schafft auch eine bessere Atmosphäre am Arbeitsplatz – wir reden ja auch vom «Vertrauensklima» – und macht uns so nicht nur in ökonomischer Perspektive produktiver.

Kann Vertrauen biologische Prozesse wie Schmerzempfinden und Stress beeinflussen?

Wenn Vertrauen da ist, vermeidet es Stress, indem sich kontrollierendes oder überwachendes Verhalten erübrigt. Das wird sicher einen Effekt auf das generelle Wohlbefinden haben. Misstrauen ist anstrengend, es raubt Zeit und zehrt uns langfristig aus. Mir fehlt das Know-how mit Blick auf die Frage, ob Vertrauen das Schmerzempfinden beeinflussen kann, aber es gibt einige Studien, die etwa zeigen, dass ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient das Schmerzempfinden positiv beeinflusst. Schmerz ist nicht einfach Schmerz. Die Qualität und Intensität des Schmerzes variiert offenbar, und einer der Faktoren, die hier Einfluss haben, könnte das Vertrauen in das medizinische Personal sein. Warum sollte es mich nicht positiv beeinflussen, wenn ich weiss, dass sich jemand ernsthaft kümmert, gut zuhört und kompetent handelt? Kommunikation ist hier entscheidend. Studien zeigen, dass gelingende Kommunikation im Arzt-Patienten-Verhältnis den Umgang mit Schmerz erleichtert.

Zur Person

Martin Hartmann ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt praktische Philosophie an der Universität Luzern. Er studierte Philosophie, Komparatistik und Soziologie in Konstanz, London und Berlin. Forschungsaufenthalte führten ihn in die USA und nach Frankreich. Er hatte Professuren an verschiedenen Universitäten inne und ist Autor diverser wissenschaftlicher Publikationen. Martin Hartmann ist der Experte für das Thema Vertrauen.

Welche Rolle spielt das soziale Umfeld bei der Bildung von Vertrauen?

In gewisser Weise hat jeder seine eigene Vertrauensbiografie. Und die hängt natürlich ab vom Umfeld, in dem wir aufwachsen, von den Eltern, Freunden, Kolleginnen und Kollegen. Werden wir ermutigt, anderen zu vertrauen, oder malt man uns eher allerlei Gefahren an die Wand? Hat man unser Vertrauen enttäuscht oder gar verraten? Welche Erfahrungen haben wir gemacht? Das alles prägt unsere Bereitschaft, anderen zu vertrauen oder eben nicht. Vertrauen bedeutet, sich verletzlich zu machen – das muss man wollen, weil man ja auch mit allfälligen Enttäuschungen umgehen muss. Selbstvertrauen ist hier wichtig. Je ängstlicher ich bin mit Blick auf die Verletzungen, die gebrochenes Vertrauen nach sich zieht, desto weniger werde ich vertrauen. Und Selbstvertrauen gewinne ich durch die Anerkennung anderer, so hängt alles zusammen. Hinzu kommt, was ich oben Vertrauensklima genannt habe. Wenn ich merke, dass in einem Raum Misstrauen herrscht, wird es schwerer für mich, selbst Vertrauen aufzubauen, das spüren wir schnell. Ist allgemein Vertrauen da, entlasten uns gewissermassen auch die anderen von der Notwendigkeit, das Niveau der Vertrauenswürdigkeit ständig zu kontrollieren. Vertrauen ist in diesem Sinne ein Gemeinschaftswerk.

Wie kann die «Wissenschaft des Vertrauens» zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Systeme verbessern beziehungsweise beeinflussen?

Man sollte den Einfluss der Wissenschaft nicht überhöhen, zumal sie ja selbst gelegentlich um das Vertrauen der Öffentlichkeit ringt. Dies hat die Corona-Krise gezeigt. Wir müssen uns schon selbst auf Vertrauen einlassen, wenn wir erfahren wollen, was wir dadurch gewinnen – das nimmt uns niemand ab. Aber natürlich hilft die Wissenschaft, das Phänomen Vertrauen besser zu verstehen, und sie kann auch Erkenntnisse bereitstellen, die dazu beitragen, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen. Wir wissen mittlerweile ganz gut, welche Faktoren Vertrauen beeinflussen, welche Rolle etwa soziale Ungleichheit spielt, wenn es um die Frage geht, wer wem vertraut. Damit dieses Wissen aber Einfluss nehmen kann, muss man es verständlich aufbereiten und auch bedenken, dass das Publikum nie eine Einheit bildet. Man muss also lernen, auf vielfältige Bedürfnislagen und Perspektiven einzugehen. Das hat die Wissenschaft teilweise noch nicht verstanden. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass sich Vertrauen nicht schon dann bildet, wenn wir es haben wollen. Vertrauen stellt sich ein, es ereignet sich, aber es kann nicht herbeigezwungen werden. Das missversteht manche Ratgeberliteratur gerne. Ich formuliere mal etwas blumig: Vertrauen ist irgendwie auch ein Wunder, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht. Das ist fast wie mit der Liebe.