Der Kapitalismus gab den Ausschlag
Die Gründung der Christlichsozialen Kranken- und Unfallkasse der Schweiz (CKUS) ist eng mit einem Namen verbunden: Johann Baptist Jung – einem Mann aus ärmsten Verhältnissen, der viel bewegte.
*Johann Baptist Jung war Gründer zahlreicher weiterer Sozialwerke. Er starb 1922 im Alter von 61 Jahren.
Was es heisst, in Armut aufzuwachsen, musste Johann Baptist Jung* am eigenen Leib erfahren. Er wurde 1861 in eine einst angesehene, aber mittlerweile verarmte Bauernfamilie hineingeboren. Schon als Primarschüler musste er im toggenburgischen Bichwil stundenlang als sogenannter «Fädlerbub» im Sticklokal1 arbeiten. Und im Alter von fünfzehn Jahren bekam er als Handmaschinensticker die ganze Härte des kapitalistischen Ausbeutungssystems zu spüren. So mussten die Arbeiter etwa das ganze finanzielle Risiko selbst tragen. Dazu gehörten der Kauf von Stickmaschine und Garn, die Anstellung von Hilfspersonal sowie die Kosten für das Sticklokal, Heizung und Licht. Mit eisernem Willen, Sparsamkeit und dank Unterstützung durch den Ortspfarrer gelang es Johann Baptist Jung, aus dem System auszubrechen und eine Priesterlaufbahn einzuschlagen.
1 Das Einfädeln der Sticknadeln an den Stickmaschinen war einfacher mit feinen Fingern. Deshalb wurden dafür meist Kinder eingesetzt, sogenannte «Fädlerkinder» oder eben «Fädlerbuben».
Goldene Zeiten – für Reiche
Mit dem Aufkommen der Stickmaschinen brachen in der Ostschweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts goldene Zeiten an, allerdings bloss für die Stickereifabrikanten und die Exporteure, die sich schon bald im Reichtum sonnten. Sie verstanden sich bestens darauf, ihr Geld auf Kosten der Arbeiterschaft zu mehren. Am einfachsten funktionierte dies, wenn sie die Stickereien in billiger Heimarbeit produzieren liessen, eine Branche, die damals keinerlei Arbeitszeitvorschriften kannte. Und Kinderarbeit gehörte zur Tagesordnung.
Enzyklika als «Erleuchtung»
Den wohl prägendsten Moment in seinem Leben erfuhr Jung 1891. Er war Domvikar in St. Gallen, als Papst Leo XIII. seine 45 Punkte umfassende Enzyklika (Rundschreiben) «Rerum Novarum» veröffentlichte. Darin prangerte er den zunehmenden Liberalismus und den damit zusammenhängenden Kapitalismus2 an und machte sich zum leidenschaftlichen Anwalt der Arbeiterschaft. Das päpstliche Rundschreiben liess Johann Baptist Jung fortan nicht mehr los, bis er zur felsenfesten Überzeugung gelangt war: «Ich muss den päpstlichen Worten Taten folgen lassen.» Denn als ehemaliger Arbeiter wusste er nur zu gut um das Elend der arbeitenden Bevölkerung. Fortan führte er einen regelrechten Feldzug gegen den «Mammonismus der liberalen Wirtschaftsordnung», wie er es in einer Predigt formulierte.
2 Keine Regulierung durch den Staat: Das war das Grundprinzip des wirtschaftlichen Liberalismus. Dieses Prinzip ermöglichte im 19. Jahrhundert letztlich ein ausbeuterisches Wirtschaftssystem, in dem die Reichen reicher, die Armen aber stets ärmer wurden.
Aufruf zur Selbsthilfe
So entschloss er sich – mit voller Billigung des St. Galler Bischofs –, eigene christliche Arbeitervereine3 zu gründen. Mit flammenden Appellen gelang es ihm, die Arbeiterschaft für seine Ideen zu gewinnen. Und so konnte er 1899 in St. Gallen den ersten katholischen Arbeiterverein und den ersten katholischen Arbeiterinnenverein ins Leben rufen. Er animierte die Arbeiterschaft zur Selbsthilfe und stiess damit auf offene Ohren: Bereits am 6. März 1899 kamen sechzig Frauen und Männer der beiden Vereine zusammen, um den Worten Taten folgen zu lassen: Im Speisesaal des katholischen Gesellenhauses St. Gallen legten sie den Grundstein für die erste Christlichsoziale Kranken- und Unfallkasse der Schweiz (CKUS)4, die 1987 in CSS (Christlich-Soziale der Schweiz) umbenannt wurde. Eine Kommission besorgte die Ausarbeitung der ersten Statuten. Verabschiedet wurden diese am 30. April 1899. Je eine eigene Verwaltung führte die Geschäfte der männlichen und jene der weiblichen Abteilung. So nahm die Idee des ehemaligen Fädlerbuben Johann Baptist Jung Formen an. Und dank seiner glühenden Voten entstanden bald schon weitere Sektionen, die sich 1910 für eine vollständige Zentralisation aussprachen.
3 Um 1900 entstanden in der Schweiz viele christliche Arbeitervereine. Sie basierten auf der Soziallehre der katholischen Kirche und setzten sich im Sinne der Selbsthilfe für die Belange der Arbeitnehmenden und ihrer Familien ein.
4 Das Prinzip der Selbsthilfe war in den Anfängen äusserst einfach konzipiert: Wer wegen Krankheit oder Unfall nicht arbeiten konnte, erhielt ein minimales Taggeld (zu Beginn 80 Rappen). Eine Krankenpflegeversicherung, die auch einen Teil der Pflegekosten übernahm, entstand erst 1913.