«Ich bin zurzeit ohne Existenz»

Die Verarmung grosser Teile der Bevölkerung veranlasste den Zentralpräsidenten 1916 zum Handeln: Die CKUS rief einen Spezial­unter­stützungsfonds ins Leben, um mittellose Versicherte zu unterstützen.

«Ich bin zurzeit ohne Existenz und es macht mir schwere Sorge, wie ich für meine Lieben den notwendigen Unterhalt aufbringen soll.» Mit diesem Hilferuf wandte sich Josef S. aus der Luzerner Vorortsgemeinde Kriens 1927 an die örtliche CKUS-Sektion, bei der er und seine Familie versichert waren. Viel ist vom Mann «ohne Existenz» nicht bekannt, ausser den paar Zeilen in einem alten Protokoll des Zentralausschusses. Aber die wenigen Worte zeichnen ein Bild grosser Verzweiflung, wie sie damals in unzähligen Familien in der ganzen Schweiz allgegenwärtig gewesen sein dürfte. Zwar war die offizielle Arbeitslosigkeit in der Schweiz in den Jahren kurz vor der grossen Weltwirtschaftskrise, die 1929 ihren Anfang nahm, eher tief, aber Armut grassierte allenthalben. Selbst wer Arbeit hatte, konnte mit dem kargen Lohn den Lebensunterhalt kaum bestreiten. 

Kinder «verkostgeldet», Frau krank

Auch Josef S. erging es so. Um wenigstens für seine Frau und sich selber das Nötigste zum Leben zu haben, musste er all seine acht Kinder «verkostgelden», wie er in seinem Bittbrief schreibt. Sie wurden also in fremden Familien platziert, was in der Regel auf Kosten der Gemeinde geschah. Als wäre der Entscheid, die eigenen Kinder fremden Familien zu übergeben, nicht schon hart genug gewesen, kam noch die damals grassierende Tuberkulose hinzu. Seine Frau musste im CKUS-Sanatorium Albula in Davos eine Kur antreten. Und die allerletzten Franken, die Josef S. noch besass, gab er für den Klinikaufenthalt seiner Frau aus. Keinen Ausweg mehr sehend, wandte er sich mit folgenden Worten an seine Krankenversicherung in Kriens: «Nachdem ich letztes Jahr so bös abgeschnitten habe im Geschäft, sehe ich mich veranlasst, mit der dringenden Bitte an Sie zu gelangen, für meine Frau und Kinder eine Zuwendung aus dem Spezialfonds zu gewähren.» Sein Flehen wurde erhört. Nachdem bereits die CKUS-Sektion Kriens der «schwergeprüften Familie» entgegengekommen war, bewilligte auch der Zentralausschuss der Kasse einen Betrag von 50 Franken – ein kleiner Lichtblick im düsteren Leben einer Arbeiterfamilie.

Die schlimmste Teuerung

In den Kriegsjahren 1914 bis 1918, als der Spezialunterstützungsfonds der CKUS gegründet wurde, erlebte die Schweiz die schlimmste Teuerung, seit Daten dazu erhoben wurden. Laut den Zahlen des Bundesamts für Statistik stieg der Landesindex der Konsumentenpreise in den Kriegsjahren von 100 auf 204 Punkte. Die Lebenshaltungskosten verdoppelten sich also innert weniger Jahre. Da die Löhne der arbeitenden Bevöl­­­­­kerung dieser Entwicklung weit hinterherhinkten, stand für den Lebensunterhalt von Jahr zu Jahr weniger zur Verfügung. Immer breitere Bevölkerungsschichten waren auf private und staatliche Unterstützung angewiesen.

Zentralpräsident als treibende Kraft

Dass Josef S. sowie vor und nach ihm Hunderte andere Versicherte unterstützt werden konnten, ist dem damaligen Zentralpräsidenten Josef Bruggmann zu verdanken. Er sah das Versorgungselend während der Jahre des Ersten Weltkriegs und den damit verbundenen schlechten Gesundheitszustand der Bevölkerung. Sein christlichsozialer Charakter bewog ihn deshalb 1916 zur Gründung eines Spezialunterstützungsfonds. Dieser wurde geäufnet mit einem Betrag von 20 000 Franken aus dem sogenannten «Leofonds» (so genannt nach Papst Leo XIII.) der christlichsozialen Organisationen der Schweiz. Spenden, Sektionsbeiträge und Lotterien ermöglichten es, den Fonds bis 1925 mit 70 000 Franken auszustatten. Jährlich ausgeschüttet wurde jedoch bloss ein kleiner Teil davon. Allererster Bezüger war im Sommer 1918 ein Coiffeur aus Horgen, der wegen einer Knochenerkrankung behandelt wurde. «Da es sich um einen armen Burschen handelt, wird demselben ein Betrag von zehn Franken zugesprochen», hielt der Zentralausschuss damals zum Gesuch fest. In vielen Fällen flossen Beiträge an verarmte Einzelpersonen und – wie im Fall von Josef S. – vor allem an kinderreiche Familien. Denn sieben, zehn oder gar mehr Kinder waren damals keine Seltenheit, wie das Beispiel von Paula K. im sankt-gallischen Bichwil zeigt, die elf Kinder zu ernähren hatte. Auf Antrag des Sektionsvorstandes wurden der kranken Frau 40 Franken überwiesen.

Die Welt­wirt­schafts­krise führ­te in der Schweiz zu grosser Ar­beits­losig­keit und De­mon­stra­tionen.

Und Josef S.?

Ob übrigens die Kinder von Josef S. wieder nach Hause zurückkehren konnten, ist nicht bekannt. Ebenso wenig, ob seine Frau je wieder gesund geworden ist. Der Name der Familie taucht in den Dokumenten der CKUS nie mehr auf. Tatsache aber ist, dass sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts viele Menschen, die bei der «Christlichsozialen» versichert waren, nur dank Beiträgen aus dem Spezialunterstützungsfonds und anderer Gaben finanziell über Wasser halten konnten.

Weitere Unterstützungsquellen

Der 1916 gegründete Spezialunterstützungsfonds – 1934, nach dem Tod von Zentralpräsident Josef Bruggmann, in Bruggmann-Fonds umgetauft – war bloss eine von verschiedenen Finanzierungsquellen für Versicherte in ärmlichen Verhältnissen. Die CKUS-Sektionen unterstützten ihre Mitglieder schweizweit, und auch aus der Zentralkasse in Luzern wurden Beiträge entrichtet. Zudem flossen Extraleistungen, die aus Kantons- und Gemeindebeiträgen stammten. Schliesslich bestand ein Sanatoriumsfonds. Aus diesem wurden Kinder und Erwachsene unterstützt, die in den CKUS-Sanatorien in Davos oder Leysin zur Kur waren. 1940 zum Beispiel flossen insgesamt 90 000 Franken Unterstützungsgelder an die Versicherten. Davon stammten 5000 Franken aus dem Bruggmann-Fonds.