Entwicklung – oftmals nahe am Abgrund
1908 ein loses Gefüge, 26 Jahre später die zweitgrösste Krankenversicherung der Schweiz: Josef Bruggmann blickt auf seine Zeit als Zentralpräsident von 1908 bis 1934 zurück.
«Als gelernter Sticker wusste ich, dass es Geduld und Ausdauer braucht, damit am Schluss etwas Schönes entsteht. Dessen war ich mir bewusst, als ich 1908 mein Amt als Zentralpräsident1 der Christlichsozialen Kranken- und Unfallkasse (CKUS) antrat. Es war ein beschauliches Grüpplein von Ortssektionen, das ich damals führen durfte. In gerade mal zwölf Gemeinden hatte unsere Bewegung Fuss gefasst, und erst 2500 Frauen und Männer – allesamt aus der Arbeiterklasse – waren versichert. Mir schien, als sei der Elan aus den Gründerjahren ein bisschen eingeschlafen. Statt Aufbruchstimmung spürte ich Genügsamkeit, und eine gewisse Trägheit hatte den Gründungseifer aus früherer Zeit abgelöst. Lediglich fünf neue Sektionen kamen im Jahr 1908 hinzu, gar bloss eine im Jahr darauf. Es war zum Verzweifeln. Auch die Kreativität, die gewisse Sektionen in Finanzangelegenheiten entwickelten, liess mein buchhalterisches Gewissen erschaudern. Reichte das Geld in einem Jahr nicht aus, schritt man kurzerhand zu einer Tombola oder führte eine Sammlung durch, um die finanziellen Löcher zu stopfen.
1 In den Anfangsjahren waren die Ortssektionen noch völlig eigenständig unterwegs. Ein allmählicher Zusammenschluss erfolgte erst ab 1906, und 1908 wurde die Zentralisierung beschlossen und ein Zentralpräsident gewählt. In den Anfangsjahren war er zugleich Zentralverwalter.
Josef Bruggmann
1871 im sankt-gallischen Degersheim geboren, absolvierte Josef Bruggmann nach seiner Schulzeit eine Lehre als Sticker. 1907 trat er der Sektion St. Gallen der Christlichsozialen Kranken- und Unfallkasse (CKUS) bei und wurde 1908 zum Präsidenten des Christlichsozialen Krankenkassenverbandes gewählt. Bis zu seinem Tod im Juni 1934 entwickelte sich die CKUS zur zweitgrössten Krankenversicherung der Schweiz mit über 90 000 Versicherten. Auch politisch war Josef Bruggmann aktiv. Er vertrat die Christlichsoziale Partei zuerst im Kanton St. Gallen und später – nach der Verlegung des CKUS-Hauptsitzes in die Stadt Luzern – im Kanton Luzern als Kantonsrat.
Gründungssektion stellt sich quer
Für die Sektionsvorstände war deshalb klar: Nur wenn wir unsere Strukturen vereinheitlichen und eine vollständige Zentralisation anstreben, können wir wieder Fahrt aufnehmen in eine erfolgreiche Zukunft. Doch ausgerechnet die Sektion St. Gallen, wo unsere soziale Idee 1899 ihren Anfang nahm, zeigte sich ziemlich unsozial. Die St. Galler mochten von zentralen Strukturen nichts wissen – vielleicht auch deshalb nicht, weil sie ihr ansehnliches Sektionsvermögen von 28 000 Franken lieber für sich behalten wollten, statt es in die Zentralkasse zu legen. Nicht zuletzt dank eines flammenden Appells unseres Gründervaters Kanonikus Johann Baptist Jung konnten wir das sankt-gallische Widerstandsnest zähmen. Und im Mai 1910 nahm das neue CKUS-Schiff Kurs in Richtung stetes Wachstum.
Wichtige Meilensteine erreicht
Für mich als Zentralpräsidenten und Steuermann hatten die kommenden beiden Jahrzehnte aber – trotz der über 400 Sektionen, die in meiner Amtszeit hinzukamen – nur wenig mit einer ruhigen Überfahrt zu tun. Ab und zu war der Wellengang gemässigt und wir konnten einige wichtige Ziele ansteuern, was mich stets mit grosser Genugtuung erfüllte. Ich denke da etwa an die Kinderversicherung2, die wir 1912 ins Leben riefen. Auch die Schaffung der Krankenpflegeversicherung im Jahr darauf war ein Meilenstein. Fortan erhielten unsere Mitglieder im Krankheitsfall nicht bloss ein Taggeld, sondern die Kasse übernahm auch 75 Prozent der Behandlungskosten. Für viele Familien, die kaum das Nötigste zum Leben hatten, war das ein wahrer Segen. Der grösste Herzenswunsch unserer Versicherung aber ging 1923 in Erfüllung: In Davos durften wir unsere erste Höhenklinik eröffnen und damit einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen die damals grassierende Tuberkulose-Seuche im Land leisten.
2 Die Kinderversicherung wurde damals als «Opfer im Hinblick auf die soziale Sicherstellung» gesehen, bezahlte sie doch an die Behandlungskosten (Arzt und Spital) von Kindern. Die Kasse wuchs extrem schnell – noch mehr aber stiegen die Kosten und damit die Defizite. Deshalb wurde die Kinderversicherung bald einmal in die Krankenpflegeversicherung der Erwachsenen integriert.
«Unsere Kasse war bald nur noch eine leere Hülle, in der kaum mehr ein Einräppler zu finden war.»
Krieg und Pandemie
Sonst aber standen die Zeichen häufig auf Sturm, um nicht zu sagen: auf Orkan. Zwar durften wir bis 1914 noch halbwegs ertragreiche Jahre verzeichnen und konnten so bescheidene Reserven äufnen. Doch mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs legte sich ein dunkler Schatten über ganz Europa. Unsere Kasse wusste kaum mehr, wie sie die explodierenden Krankheitskosten, die sich während der Kriegsjahre 1914 bis 1918 mehr als verdreifachten, noch bezahlen sollte. Zu allem Kriegselend zog 1918 auch noch die Spanische Grippe durchs Schweizerland. Nicht nur viele Menschen magerten bis auf die Knochen ab, auch unsere Kasse war bald nur noch eine leere Hülle, in der kaum mehr ein Einräppler zu finden war. In dieser fast ausweglosen Situation rieten uns die hochwürdigen Herren Ärzte dazu, unsere Prämien halt so lange zu erhöhen, bis die Kosten wieder gedeckt seien – es wäre der Ruin für viele Versicherte gewesen. Dass ein solcher Vorschlag ausgerechnet von den Ärzten kam, wirkte absurd, denn viele von ihnen machten nur allzu gern die hohle Hand und trugen ihren Teil dazu bei, unsere Kasse auszubluten. In dieser schweren Zeit war es ein Geschenk des Himmels, dass unsere eidgenössischen Politiker3 die Bundesschatulle öffneten und die Schweizer Krankenkassen massiv unterstützten. Alles andere hätte den Untergang unserer sozialen Institution bedeutet.
3 Die prekäre Lage der Krankenversicherungen beschäftigte auch die Bundespolitik. Verschiedene Vorstösse zielten darauf ab, die Versicherungen mit Bundesgeldern zu unterstützen und die Hälfte der durch die Spanische Grippe verursachten Kosten zu übernehmen.
Kurze Blüte, grosse Krise
Mit dem Ende des Weltkrieges und dem Abflauen der Spanischen Grippe fand auch ich ab 1919 wieder einen etwas besseren Schlaf. Und mit der Verlegung des Hauptsitzes der Kasse nach Luzern setzte gar eine kurze Blütezeit ein. Dutzende neuer Sektionen wurden im ganzen Lande gegründet. Und die Bundesbeiträge sowie unsere Sanierungsmassnahmen4 mit stets möglichst dezenten Prämienaufschlägen erlaubten gar wieder die Schaffung eines kleinen Reservepolsters. Für wirklichen Optimismus aber bestand wenig Grund. Vielmehr prägte die Jahre vor 1930 ein stetes Ringen um ein finanzielles Gleichgewicht. Dazu gehörten immer wieder auch langwierige und ermüdende Verhandlungen mit den kantonalen Ärzteschaften um günstigere Tarife. Die Erfolge jedoch waren meist bescheiden. Ab 1930 schwappte dann auch noch die grosse Weltwirtschaftskrise über den Atlantik und erfasste ganz Europa. Jahr für Jahr verloren mehr Mitglieder unserer Kasse ihre Arbeit. Die Armen wurden noch ärmer. Für viele Menschen geriet das Bezahlen der Versicherungsprämien zu einem belastenden Kraftakt. Die Prämienausfälle wurden immer grösser. Zum Ende meiner Zeit bei der CKUS hätte ich mir und vor allem allen Versicherten schönere und ruhigere Zeiten gewünscht. Gerne hätte ich der edlen Sache unserer Institution länger gedient und das Schiff der CKUS in ruhigere Gewässer gesteuert. Aber es sollte nicht sein. Am 21. März 1934 konnte ich – geistig wach, aber körperlich sehr schwach5 – letztmals an einer Ausschusssitzung teilnehmen und Abschied nehmen.»
Der Text basiert auf den Jahresberichten, die Josef Bruggmann als Zentralpräsident in den Jahren 1908 bis 1933 verfasst hat.
4 Nicht bezahlte Prämien wurden für viele Versicherungen mehr und mehr zu einem existenziellen Problem. 1932 zum Beispiel betrugen die Ausstände bei der CKUS 150 000 Franken, was fünf Prozent der Prämiensumme entsprach. Auf 2022 umgerechnet, wären dies 270 Millionen Franken.
5 Der 1908 zum Zentralpräsidenten gewählte Josef Bruggmann konnte sein letztes Präsidialjahr praktisch nur noch vom Krankenbett aus leiten. Er starb am 29. Juni 1934 an einer schweren Erkrankung im Alter von 64 Jahren.